Die Landschaft der deutschen Arbeitsbeziehungen befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Im Mittelpunkt steht die Tarifbindung, ein zentrales Element des Sozialstaates, dessen Reichweite seit Jahrzehnten schwindet. Dieser Rückgang wirft fundamentale Fragen nach Einkommensgerechtigkeit, Arbeitsbedingungen und dem sozialen Zusammenhalt auf. Die Debatte um die Tarifautonomie und die Rolle des Staates bei ihrer Stärkung ist daher aktueller denn je.
Die Geschichte der Tarifbindung: Ein Fundament im Wandel
Die Geschichte der Tarifbindung in Deutschland reicht weit zurück. Der erste Tarifvertrag wurde bereits am 1. Mai 1873 für Buchdrucker abgeschlossen, eine Vereinbarung, die grundlegende Aspekte wie Lohn, Arbeitszeit und Kündigungsfristen regelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland fest im Grundgesetz (Art. 9 Abs. 3) verankert, was Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden das Recht einräumt, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen autonom und ohne staatliche Intervention auszuhandeln. Dies bildete lange Zeit einen Eckpfeiler für wirtschaftliche Stabilität und sozialen Frieden.
Doch dieses System ist ins Wanken geraten. Während Mitte der 1990er Jahre noch fast 80 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeiteten, ist dieser Anteil kontinuierlich auf heute nur noch rund 49 bis 51 Prozent gesunken. Dieser Rückgang ist in Westdeutschland von 76 Prozent (1998) auf 51 Prozent (2023) und in Ostdeutschland von 63 Prozent auf 45 Prozent (2023) besonders auffällig.
Die Debatte um die Tarifautonomie: Freiwilligkeit vs. staatliche Impulse
Die sinkende Tarifbindung hat eine intensive Debatte über die Rolle der Tarifautonomie ausgelöst. Für Arbeitgeber ist die Tarifautonomie ein Ausdruck der freiwilligen Aushandlung von Arbeitsbedingungen ohne staatlichen Zwang. Sie argumentieren, dass eine staatliche Einmischung, wie durch ein Tariftreuegesetz, die unternehmerische Freiheit einschränken und zu Bürokratie führen könnte. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht darin die Gefahr einer „staatlich gesteuerten Autonomie der Verbände“.
Auf der anderen Seite betonen Gewerkschaften und Befürworter staatlicher Maßnahmen, dass eine zu geringe Tarifbindung zu einem Wettbewerb nach unten bei Löhnen und Arbeitsbedingungen führt und den sozialen Frieden gefährdet. Wenn die Tarifautonomie nicht mehr ausreichend funktioniert, sei es die Aufgabe des Gesetzgebers, Beschäftigte zu schützen und für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Die Diskussion dreht sich somit um die Frage, ob und wie der Staat Impulse setzen kann, ohne das Prinzip der Tarifautonomie fundamental zu untergraben.
Politische Initiativen zur Stärkung der Tarifbindung
Angesichts des Rückgangs der Tarifbindung und der EU-Mindestlohnrichtlinie, die Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen vorsieht, wenn die Tarifbindung unter 80 Prozent liegt, haben verschiedene politische Akteure Initiativen gestartet.
Hubertus Heils Vorstoß für ein Bundestariftreuegesetz
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat sich maßgeblich für die Stärkung der Tarifbindung eingesetzt. Bereits im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung (SPD, Grüne, FDP) war ein Bundestariftreuegesetz fest vereinbart. Heil legte einen entsprechenden Referentenentwurf vor, der vorsieht, dass öffentliche Aufträge des Bundes künftig nur noch an Unternehmen vergeben werden, die tarifvertragliche Arbeitsbedingungen gewährleisten. Ziel ist es, Lohndumping mit Steuergeld zu verhindern und ein Zeichen für gute Arbeit zu setzen.
Das Gesetz sollte nicht nur den gültigen Tariflohn umfassen, sondern auch bezahlten Mindestjahresurlaub, Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten und Pausenzeiten. Ursprünglich war die Verabschiedung für 2023 geplant, verzögerte sich jedoch aufgrund von Vorbehalten der FDP, die eine steigende Bürokratie und eine Einschränkung der Tarifautonomie befürchtete. Trotzdem wurde die Ressortabstimmung eingeleitet, um ein „gesellschaftliches Versprechen“ einzulösen.
Bärbel Bas‘ Vision für Tariftreue
Die aktuelle Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) treibt die Initiative zur Stärkung der Tarifbindung mit Nachdruck voran. Ihr Gesetzentwurf zum Tariftreuegesetz sieht vor, dass Unternehmen, die Bundesaufträge erhalten, ihre Beschäftigten nach tariflichen Standards entlohnen müssen. Dies gilt insbesondere für Projekte, die aus dem 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen zur Infrastrukturmodernisierung finanziert werden.
Kernpunkte des geplanten Gesetzes unter Bärbel Bas‘ Führung:
- Anwendungsschwelle: Aufträge ab einem Wert von 50.000 Euro sollen erfasst werden, bei Start-ups in den ersten vier Jahren sogar ab 100.000 Euro.
- Kontrolle und Sanktionen: Eine neue Prüfstelle soll die Einhaltung der Tariftreue kontrollieren. Bei Verstößen drohen Vertragsstrafen von bis zu 10 Prozent des Auftragswertes oder der Ausschluss von zukünftigen Vergaben.
- Kein Lohndumping: Das Gesetz soll sicherstellen, dass Steuergelder nicht für Lohndumping verwendet werden und stattdessen faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden.
Bas betont, dass der Staat mit diesem Gesetz seiner Rolle als Auftraggeber gerecht wird und einen Anreiz für mehr Tarifbindung setzt.
Die Forderungen des DGB: Für eine #Tarifwende
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern eine umfassende #Tarifwende in Deutschland. Sie haben dazu ein 14-Punkte-Papier mit klaren Forderungen an die Politik formuliert, um die Tarifbindung wieder signifikant zu erhöhen.
Zu den zentralen Forderungen des DGB gehören:
- Schnelle Umsetzung des Bundestariftreuegesetzes: Öffentliche Aufträge sollen nur noch an Unternehmen mit Tarifvertrag gehen, um das enorme öffentliche Auftragsvolumen (bis zu 500 Milliarden Euro jährlich) als Hebel zu nutzen.
- Keine staatlichen Fördergelder ohne Tarifvertrag: Steuergelder sollen nur an Unternehmen gezahlt werden, die Tarifverträge einhalten.
- Vereinfachung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen: Dies würde dazu führen, dass Tarifverträge auch für nicht-tarifgebundene Unternehmen einer Branche verpflichtend werden, was besonders wichtig ist, da Arbeitgeberverbände die Allgemeinverbindlichkeit oft blockieren. Das Vetorecht für Arbeitgeber im Tarifausschuss soll abgeschafft und das Antragsrecht auch für nur eine Tarifpartei ermöglicht werden.
- Bekämpfung der „Tarifflucht“: Dies umfasst Maßnahmen gegen sogenannte „Ohne-Tarif-Mitgliedschaften“ in Arbeitgeberverbänden und die Sicherstellung der Fortgeltung von Tarifverträgen bei Betriebsspaltungen oder ‑übergängen, die der Umgehung von Tarifverträgen dienen.
- Digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften: Um mit Beschäftigten in Kontakt zu treten und für Mitgliedschaften zu werben, fordern Gewerkschaften ein digitales Zugangsrecht zu Betrieben über Intranet oder E‑Mail.
- Abschreckendere Sanktionen: Gegen gewerkschaftsfeindliches Verhalten sollen schärfere gesetzliche Sanktionen eingeführt werden.
Der DGB argumentiert, dass eine hohe Tarifbindung nicht nur die individuellen Arbeitsbedingungen verbessert, sondern auch den sozialen Zusammenhalt stärkt und zur Einkommensgerechtigkeit beiträgt.
Tariftreuegesetze in den Bundesländern: Vorreiterrolle und Herausforderungen
Viele Bundesländer haben bereits eigene Tariftreuegesetze eingeführt, die die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung von Tarifstandards koppeln. Alle Bundesländer außer Bayern und Sachsen verfügen über solche Regelungen. Beispiele sind das Saarländische Tariftreue- und Fairer-Lohn-Gesetz (STFLG) oder das Landestariftreue- und Mindestlohngesetz (LTMG) in Baden-Württemberg.
Diese Landesgesetze spielten eine wichtige Rolle, insbesondere nach dem sogenannten „Rüffert-Schock“ im Jahr 2008, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) Tariftreue-Vorschriften des niedersächsischen Vergabegesetzes als Verstoß gegen die europäische Dienstleistungsfreiheit wertete. Viele Länder setzten ihre Regelungen daraufhin aus, doch eine Gegenbewegung setzte ein, und immer mehr Länder suchten Wege, die Spielräume für soziale Kriterien bei der öffentlichen Vergabe auszuschöpfen. Die Erfahrungen der Bundesländer zeigen, dass solche Gesetze umsetzbar sind und einen wichtigen Beitrag zur Sicherung fairer Arbeitsbedingungen leisten können.
Sozialer Zusammenhalt, Einkommensgerechtigkeit und bessere Arbeitsbedingungen
Die Stärkung der Tarifbindung wird als entscheidender Faktor für den sozialen Zusammenhalt und die Einkommensgerechtigkeit in Deutschland angesehen. Studien des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigen deutlich, dass Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben im Durchschnitt 11 Prozent mehr Gehalt erhalten und wöchentlich fast eine Stunde weniger arbeiten als ihre Kollegen in vergleichbaren Betrieben ohne Tarifvertrag. Tarifverträge bieten zudem oft umfassendere Leistungen wie mehr Urlaub, Weihnachtsgeld, vermögenswirksame Leistungen und bessere Übernahmechancen für Auszubildende.
Eine hohe Tarifbindung trägt dazu bei, den Wettbewerb nach unten bei Löhnen und Arbeitsbedingungen zu begrenzen, was einen einheitlichen und fairen Wettbewerbsrahmen schafft. Sie bietet den Beschäftigten Stabilität und Halt im Arbeitsleben, fördert die Gleichbehandlung und verringert soziale Ungleichheit.
Tarifflucht-Strategien: Herausforderungen für die Tarifbindung
Der Rückgang der Tarifbindung ist auch auf gezielte Tarifflucht-Strategien von Unternehmen zurückzuführen. Eine weit verbreitete Praxis ist die „Ohne-Tarif-Mitgliedschaft“ (OT-Mitgliedschaft) in Arbeitgeberverbänden, die es Unternehmen ermöglicht, Verbandsmitglied zu sein, ohne an die ausgehandelten Tarifverträge gebunden zu sein. Dies wird von Gewerkschaften scharf kritisiert, da es die Tarifbindung systematisch untergräbt.
Weitere Strategien umfassen die Ausgliederung von Unternehmensbereichen in Tochtergesellschaften oder Betriebsspaltungen, um Tarifverträge zu umgehen. Die Politik ist gefordert, diese Schlupflöcher durch lückenlose Gesetze und scharfe Sanktionen zu schließen. Die EU-Mindestlohnrichtlinie hat hier eine neue Dynamik geschaffen, indem sie Mitgliedstaaten mit geringer Tarifbindung zur Erstellung von Aktionsplänen zur Förderung von Tarifverhandlungen verpflichtet.
Fazit
Die Stärkung der Tarifbindung in Deutschland ist eine drängende Aufgabe, die sowohl die Prinzipien der Tarifautonomie als auch die Notwendigkeit staatlicher Impulse in den Blick nimmt. Von der historischen Verankerung im Grundgesetz bis zu den aktuellen Initiativen von Hubertus Heil und Bärbel Bas, flankiert von den umfassenden Forderungen des DGB und den Erfahrungen der Bundesländer, zeigt sich ein klarer Trend: Es besteht ein breiter Konsens über die Bedeutung von Tarifverträgen für faire Arbeitsbedingungen, Einkommensgerechtigkeit und den sozialen Zusammenhalt. Der Weg zu einer höheren Tarifbindung ist jedoch weiterhin von Debatten und Widerständen geprägt, insbesondere im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen unternehmerischer Freiheit und dem Schutz der Beschäftigten. Die Umsetzung des Bundestariftreuegesetzes und die weiteren politischen Maßnahmen werden entscheidend dafür sein, ob die vielbeschworene #Tarifwende in Deutschland gelingt und der Abwärtstrend der letzten Jahrzehnte umgekehrt werden kann.